Journal ARS 48 (2015) 2

Wojciech BAŁUS

Die Sigismundkapelle in Krakau – oder die Renaissanceforschung zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Stalinzeit und dem venezianischen Spiegel des Eisernen Vorhangs

(Summary)

Die Sigismundkapelle, ein Werk der Werkstatt Bartolomeo Berreccis aus den Jahren 1515-1533, nimmt einen höchst bedeutenden Platz in der Geschichte der polnischen Kunst ein. In der stalinistischen Betrachtungsweise stellte die Sigismundkapelle ein einheitliches Werk dar. Aus den Analysen entfernte man alles, was allzu eindringlich an religiöse Dekorationselemente erinnerte (vor allem an Heiligenfiguren), oder man unterdrückte zumindest ihre christliche Aussage. Die so gedeutete Kapelle konnte zum Ausdruck eines aus der fortschrittlichen sozial-ökonomischen Entwicklung entwachsenen Realismus werden und damit ein „heimisches“ Erzeugnis sowie ein humanistisches Glaubensbekenntnis an den vitalistischen, mit der mittelalterlichen Askese und Religiosität brechenden Hedonismus. Die Abhandlung Künstlerische und ideelle Inhalte der Sigismundkapelle von Lech Kalinowski widersetzte sich vor allem derjenigen, die vor den Augen des Gelehrten der Stalinzeit die offizielle Wissenschaft aufzwang. Indem Kalinowski den christlichen Charakter des königlichen Mausoleums wiederherstellte, zertrümmerte er die Vorstellung von diesem Bauwerk als Inbegriff des ideologischen Fortschritts. Er ordnete den Bau dem Manierismus zu, der aus der Renaissanceforschung im Hinblick auf seinen angeblich konservativen, antirealistischen und spiritualistischen Charakter verbannt war. In Kalinowskis Abhandlung wurde die Sigismundkapelle aus dem Kreis der stalinistischen Ideologie herausgerissen und der Kultur des lateinischen Europa zurückgegeben. Ich schlage vor, die stalinistische Ideologie als Diskurs im Sinne von Michel Foucaults Die Ordnung des Diskurses zu deuten. Der stalinistische Diskurs war aber ein besonderer. Zum ersten hatte er einen ideologischen Charakter, denn er war durch ein System der politischen Herrschaft aufgezwungen. Deshalb erhob er den Anspruch, der einzige zu sein, und wollte alle Gebiete des menschlichen Lebens erfassen. Zum zweiten, indem er ein Monopol anstrebte, nahm er eigene ontologische Züge an. In ihrer Beschreibung dieser Ontologie berief sich Jadwiga Staniszkis auf gewisse Kategorien Hegels. Dem Kommunismus lag eine vorausgesetzte Wirklichkeit zugrunde, das heißt eine Ideologie. Ein Versuch, diese an die real existierende Wirklichkeit, d. i. an direkt Gegebenes anzuwenden, lässt zwei Aspekte der Wirklichkeitsanschauung entstehen: Schein und Realität. Einerseits projiziert die Ideologie auf Wirklichkeit ihre Kategorien, die gewöhnlich mit dem tatsächlichen Sachverhalt kaum übereinstimmen, wodurch eben der Schein zu Stande kommt. Andererseits sprengt jener tatsächliche Sachverhalt den Ideologierahmen dermaßen, dass man oft in die Not kommt, in der Theorie nicht vorgesehene Probleme ad hoc zu lösen. So kommt Realität zu Wort. Im Kommunismus hatte alles, womit man in Berührung kam, einen solchen Doppelstatus: es vereinte in sich Schein und Sein, ideologische Prinzipien und praktische Lösungen, die nur lose mit den ersteren verknüpft waren. Aus dieser Perspektive erscheinen ideologisierte Texte aus den 1950er Jahren höchst uneindeutig. Man kann sie als eine Art Spiel mit dem offiziellen Diskurs ansehen. In Veröffentlichungen der Gelehrten, die am Aufbau des neuen Systems engagiert waren, lassen sich auch Folgen des Zusammenstoßes jener vorausgesetzten Wirklichkeit mit dem tatsächlichen Sachverhalt beobachten, und zwar dort, wo die Ideologie, außerstande die Kunst zu deuten, einen Schein erzeugte (die Renaissance als bürgerliche, heimische, realistische, laizistische Kunst), und dennoch angesichts des zu deutenden Materials Bauten, Bilder und Skulpturen in Kauf nehmen musste, die für einen König hergestellt wurden und den Status von liturgischen Gegenständen hatten. Unter diesen Umständen schuf sie zusätzliche Deutungen (wie etwa die Idee einer politischen Allianz der bürgerlichen Klasse mit dem Thron, der angeblich bestrebt war, den Einfluss des Großadels einzuschränken). Vor diesem Hintergrund ist Kalinowskis Schrift als Versuch zu verstehen, den offiziellen Diskurs durch Transparenz des Diskurses der „reinen Wissenschaft“ . Während eine geographisch-weltanschauliche Unterscheidung zwischen dem reaktionären kapitalistischen Imperialismus und dem fortschrittlichen Sozialismus der Ausgangspunkt von Abhandlungen offizieller Gelehrter war, suchte Kalinowski seinen Standort in der traditionellen Pax Romana, die sich als lateinisch und christlich beschrieben ließ, aber auch an die Kultur der heidnischen Antike anknüpfte. Trotz der tatsächlich bestehenden politischen Trennung betrachtete er den Eisernen Vorhang als gleichsam gar nicht existent. In westlichen Gelehrten sah er keine gefährlichen, bürgerlichen Gegner, die subjektivistisch reaktionäre Phänomene heraussuchten, um ihre eigene Rückschrittlichkeit zu begründen, sondern Meister und Partner in der Erforschung des gemeinsamen Kulturgutes. Während Forscher von dem Rang Lech Kalinowskis oder Jan Białostockis hartnäckig das Bestehen des Eisernen Vorhangs ignorierten, war eine entsprechende Haltung auf dessen anderer Seite eher selten. Der Eiserne Vorhang war wie ein venezianischer Spiegel: von Polen aus war er durchsichtig, wenn auch oft physisch schwer zu überqueren. Doch vom Westen aus war der Eiserne Vorhang praktisch fast undurchlässig. Wenn es also zur Zeit des Kalten Krieges „zwei Stimmen der Kunstgeschichte“ gab, so war doch ihr gegenseitiges Verhältnis – aus der polnischen Perspektive gesehen – eines von seltsamer Natur: während nämlich die westliche Stimme sich von der polnischen getrennt hielt, sah sich die polnische hartnäckig als untrennbaren Teil der westlichen an.