Journal ARS 48 (2015) 2

Milan PELC

Der Manierismus zwischen gegensätzlichen Urteilen: der Fall Grgo Gamulin

(Summary)

Im Artikel wird die Beziehung zur Problematik des Manierismus im Werk des kroatischen Kunsthistorikers Grgo Gamulin (1910-1997) als ein Musterbeispiel für eine mögliche Interpretation analysiert, die einen Einblick in die methodologische und ideologische Positionierung eines Kunsthistorikers der Nachkriegszeit in einem kommunistischen Land erlaubt. In Gamulins Beschäftigung mit dem Manierismus lässt sich eine eigentümliche Evolutionslinie nachspüren, deren Umrisse mutatis mutandis in der intellektuellen Laufbahn vieler Kunsthistoriker im Ostblock zu erkennen wären. Gamulin studierte Kunstgeschichte in Zagreb und Paris in den dreißiger Jahren. Als Mitglied der kommunistischen Partei verbrachte er die Kriegszeit (1941-1945) in verschiedenen Lagern des damaligen faschistischen Ustascha-Regimes in Kroatien. In den ersten Nachkriegsjahren zeichnete er sich als einer der führenden Vertreter des kommunistischen Agitprop auf dem Gebiet der Kunstkritik und Kunstgeschichte in Kroatien aus. Er schrieb eine Reihe von Aufsätzen, in welchen er sich für einen expressiven Realismus und soziale Orientierung im Kunstschaffen einsetzte. Als Professor der Kunstgeschichte an der Universität Zagreb seit 1947 schrieb er Lehrmaterialien zur Kunst der Renaissance, Manierismus und Barock, die 1951 vervielfältigt und als Prüfungsliteratur verwendet wurden. Hier wird der Manierismus im Einklang mit der vulgärmaterialistischen Doktrin als eine kraftlose, regressive, auf Imitation und gekünstelte Effekte orientierte, reaktionäre Kunsterscheinung dargestellt, die auf die vollblutige, kreative, idealisierend mimetische Klassik der progressiven Humanisten folgte. Nach Titos Bruch mit Stalin (1948) aber kritisierte Gamulin als jugoslawischer Kommunist in seiner Studie Allgemeine Kunsttheorie als Theorie des sozialistischen Realismus (1951) die „restringierenden“ Positionen sowjetischer Kollegen, welche die gesamte Kunsttheorie nur auf eine Theorie des sozialistischen Realismus beschränken wollten. Seine gemilderte Beurteilung des Manierismus kommt aber erst im Artikel Manierismus zwischen entgegengesetzten Urteilen (1960) voll zum Ausdruck. Der Manierismus ist hier nunmehr keinesfalls als Stil des ästhetischen Verfalls negativ bewertet, sondern in seiner historischen Bedeutung erfasst, wobei die Tendenzen des expressiven und spiritualisierenden Manierismus positiv gewürdigt und die des sogenannten epigonenhaften und nachahmenden Manierismus negativ gestempelt werden. Am Anfang der siebziger Jahre fand der Bruch Gamulins mit der offiziellen kommunistischen Politik in Fragen der gesellschaftlichen Reform und nationalen Selbständigkeit im Vielvölkerstaat Jugoslawien statt, der von seiner intellektuellen Biographie nicht zu trennen ist. Wegen seiner angeblichen Mitwirkung in der kroatischen nationalen Bewegung, wurde er 1972 vorzeitig pensioniert. Obwohl seine aktive Tätigkeit an der Universität damit abgebrochen wurde, blieb er als Schriftsteller und Kunsthistoriker weiterhin unvermindert aktiv und veröffentliche zahlreiche Artikel und Monographien zur Kunst (vorwiegend) in Kroatien. Die Vorurteile Gamulins gegenüber dem epigonenhaften Manierismus werden schließlich in einer Studie über den Stil des Miniaturmalers Giulio Clovio (1498-1578) abgebaut, veröffentlicht als Einführung in die einzige moderne Monographie über Clovio von Maria Cionini Visani (1977). In seiner Analyse der Kunst Clovios betont Gamulin die Bedeutung der klassischen Basis für die gesamte Formgebung der Kunst des europäischen Manierismus des Cinquecento. Inspiriert durch die Ideen G.R. Hockes, bildete für Gamulin der Gedanke über die verlängerte Dauer der klassischen Formgebung, die durch manieristische und klassizistische Transformationen abgewandelt aber trotzdem immer noch lebendig blieb, eine Art Leitfaden, mit welchem er den Weg aus dem Labyrinth des epigonenhaften Manierismus zu finden suchte. Aufgrund analoger Erscheinungen im Zeitalter der Spätgotik / Frührenaissance, besonders im Werk des führenden dalmatinischen Architekten und Bildhauers Juraj Dalmatinac (Giorgio da Sebenico, gest. um 1473/75), erfand Gamulin die erklärende Formel der morphologischen Trägheit. Dem Paradigma der morphologischen Trägheit widmete er einen umfangreichen Artikel unter dem Titel Morphologische Trägheit und das Problem des Manierismus (1980). Der Manierismus wäre demgemäß eine verlängerte Strahlung der Klassik. Er sei eine abgeleitete Kunst, verbunden am engsten mit der Renaissance im positiven und negativen Sinne. In Gamulins Definition ist die morphologische Trägheit nichts als „das Begehren einer realisierten Schönheit, die in einem bestimmten Stil ihre Form bekam, fortzuleben und sich zu erneuern“. Somit kehren auf die Bühne des Kunsthistorischen Geschehens die „konservativen“, von der materialistisch orientierten Auffassung eher marginalisierten Kausalitäten: die Schönheit und das Ideal. Die „Entwicklung“ der Kunst hat nichts mehr mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu tun, ihr inneres Wesen wird nun auf die Ebene eines Kunstwollens übertragen, das von den äusseren Gegebenheiten völlig unabhängig ist. So ist in Gamulins Erklärung des Manierismus der ganze Kreislauf vom Materialismus bis zum Idealismus geschlossen worden!